Kuriositätenkabinett – Teil 3

Werbung oder was?

Heutzutage kennt man Klickbait-Werbung, Schleichwerbung oder Productplacing und zahlreiche weitere Formen, um die Aufmerksamkeit von Konsument*innen zu erhalten. Gemeinhin mag angenommen werden, die lockenden Formen von Werbung sind Ausdruck eines modernen Kapitalismus.

Doch weit gefehlt, bereits im 19. Jahrhundert traten zahllose Variationen von Annoncen auf, welche Leser*innen neugierig auf kommende Veranstaltungen machen sollten.

Westfälische Zeitung, 27. Oktober 1884.

Ist es eine Warnung? Eine Ankündigung? Oder gar eine Drohung? Wie stark sich subjektive Eindrücke von geschriebener oder gesprochener, gar gesungener Sprache verändern können, zeigt sich an dem jeweiligen Kontext ihres zeitlich nachfolgenden Gebrauchs.

Paul Carell, geboren 1911 als Paul Karl Schmidt und unter dem NS Regime als Diplomat tätig, schrieb in der Nachkriegszeit zahlreiche Sachbücher und Artikel für Zeitungen und Zeitschriften. Der Antisemit und SS-Sturmbannführer veröffentlichte unter dem Titel „Sie kommen!“ eine Rekapitulation der Invasion in der Normandie 1944 und setzte damit implizit ein Bedrohungszenario mit der historischen Befreiung des Europäischen Kontinents gleich. Der NS-Propagandist beeinflußte mit seinen Büchern eine ganze Generation und prägte das Bild vom Krieg nachhaltig. Als Berater hatte Carell/Schmidt Kontakt zu Politikern und Verlegern.

In anderem Kontext wird der Begriff in gleichfalls bedrohlichen Unterton durch die Band Knorkator gebraucht. Es ist unklar, worauf die Musiker anspielen. Im Interview geben sie an, bewußt auch auf die Agitationen von AfD, NPD und anderen Rechten anzuspielen.

In weniger politischem Kontext taucht der Bedrohungsunterton in Madeleine Roux‘ Zombie-Roman „Sie kommen!“ auf. Während das Zombie-Genre durchaus als apolitisch, vielleicht sogar anti-politisch, gar anarchistisch daherkommt, ließe es sich aber auch als personifizierter Ausdruck der Angst vor dem Unbekannten deuten. Die Furcht vor einem Virus, das sich quasi greifbar zu Zombies manifestiert und somit eine Pandemie sinnlich erfahrbar macht und körperlich steuerbar erscheinen lässt – wenngleich viele Filme und Serien eher das Gegenteil suggerieren. Ein interessantes Gedankenspiel vor der aktuellen Corona-Pandemie.

Westfälische Zeitung, 28. Oktober 1884.

Auch der zweite Teil der Werbereihe bereitet mehr Fragen, denn er beantwortet. Der serielle Charakter wird hier ebenso deutlich, wie seine Cliffhanger-Eigenschaften. Man fühlt sich geradezu genötigt, die Geschichte weiter zu verfolgen. Und darin steckt offenbar auch die Essenz solcher Annoncen begründet. Sie sind nicht als Ankündigungen gedacht, sondern bewußt als fiktive Geschichten konzipiert und fallen damit nicht länger in das Faktische, sondern Fiktive.

Lässt man zunächst außer Acht, dass heutzutage sämtliche Produkte in ein fktives Gerüst gespannt werden, um einer gewissen Lebensweise zugesprochen zu werden, damit sie einer Zielgruppe attraktiv erscheint, mag dies im ausgehenden 19. Jahrhundert auch Ausdruck der Zeit sein. Die Konstituierung des Deutschen Reichs als einheitlicher Nationalstaat liegt nur wenig mehr als eine Dekade zurück. Und gerade die Geschichte „Deutschlands“ wird, als geografisch gefasster Raum mitsamt seiner Historie bis zurück in antik-römsiche Zeit für viele Jahrzehnte mit dem Nationalstaat gleich gesetzt, wodurch eine fiktive Geschichte „Deutschlands“ erzählt wird, die es so nie gegeben hat.

Zu den prägensten Formen für die Erzählung „Deutschland“ kann das Hermannsdenkmal bei Detmold gezählt werden. Einer historischen Figur wird das Label „Deutsch“ gegeben, weil es zum selbstgewählten Bild des „Deutschtum“ passte.

Mitnichten soll dies andeuten, in den hier gezeigten Anzeigen sei eine politische DImension angelegt. Beidem ist lediglich die Fiktionalität von Erzähltem, bzw. Gezeigtem gemeinsam.

Westfälische Zeitung, 29. Oktober 1884.

Wer auch immer dieser Professor Orleans sein soll. Auch die Funktion Antispirist bleibt genauso unbekannt, wie die inserierte Veranstaltung der „Original-Geister“. Die nachfolgenden Ausgaben blieben einen Bericht dieser (vermeintlichen) Aufführung schuldig.

Momentan ist unklar, ob die historischen Tatsachen dieser Fiktion offenbart werden können, doch als Kuriosum mag das vielleicht auch irrelevant sein.

Kuriositätenkabinett – Teil 2 [update]

[Teil 2]

Dank des freundlichen Hinweises eines Frankfurter (a.M.) Klavier- und Cembalobauers, handelte es sich bei dem Rattenfänger des oben verlinkten Artikels wohl nicht um eine Katze, sondern einen Hund.

Ein Spitz mochte ihm zufolge auch als „Rattler“ angesprochen werden. Eine Anzeige des Bielefelder Tageblatts aus dem Jahr 1879 mag dies bestätigen.

Bielefelder Tageblatt, 13. Juni 1879.

Kuriositätenkabinett — Teil 2

[update]

Auf der Suche nach historischen Anzeigen der Bielefelder Pianofabrik Th. Mann & Co. begann ich vor Kurzem die digitalen Bestände der Universität Münster zu durchstöbern. Genauer gesagt, die Digitalisate des Bielefelder Tageblatt.

Damit war ich schon darauf gepolt, die Anzeigenteile genau zu durchforsten. Wenngleich ich eher geneigt war, grafisch gestaltete Annoncen in Augenschein zu nehmen, fiel mir im Digitalisat der Zeitung vom 12. Juli 1876 folgende Anzeige auf:

Bielefelder Tageblatt, Jg. 66, 1876, Heft 160 (12.7.1876), S. 4.

Ungewöhnlich nicht alleine die Annoncierung einer Suchmeldung für ein Haustier. Weniger Ungewöhlich, dass es sich um ein entlaufener Vertreter der Felidae handelt. Obgleich seit jahrtausenden als Haustiere gehalten, neigen sie noch immer dazu, ihren eigenen Kopf durchzusetzen. Ungewöhnlich wiederum aber auch der Name unter der Anzeige, denn er legt nahe, es handle sich um den Pianofabrikanten Th. Mann. Zumindest im Adressbuch von Bielefeld aus dem Jahr 1865 wird nur eine Person dieses Nachnamens geführt.
http://www.bielefeld.de/ftp/dokumente/Adressbuch_Bielefeld_1865.pdf

Die Bezeichnung Rattenfänger suggeriert zudem, es handle sich weniger um ein besonderes Haustier, sondern mehr um ein Nutztier. So mag man annehmen, es würde bei einer Anzeige bleiben. Doch weit gefehlt. Nur wenige Ausgaben später:

Bielefelder Tageblatt, Jg. 66, 1876, Heft 166 (19.7.1876), S. 4.

Die Domestizierung der Katze geht einher mit der Sesshaftwerdung des Menschen. Bereits im Alten Ägypten wurden sie zur Jagd auf Mäuse eingesetzt. Dennoch zeigen neuere Berichte, dass Katzen eher schlechte Rattenfänger sind.
https://www.sueddeutsche.de/wissen/schaedlinge-katzen-versagen-als-rattenfaenger-1.4147161
https://www.spektrum.de/news/katzen-taugen-nicht-als-rattenfaenger/1594300

Mitnichten ist diese Geschichte hiermit vorbei. Ganz im Gegenteil regt sie das narrative Denken an. Man malt sich Szenarien aus, wie die Geschichte um die entfleuchte Hauskatze weiterging. Ob sie jemals gefunden wurde? Es ist zweifelhaft, dass man hierauf antworten finden wird. Dennoch muss diese Katze (oder Kater) etwas besonderes für ihren Besitzer gewesen sein. Sei es aus ideellen Gründen – weil die Katze dem dreijährigen Theophil jun. ans Herz gewachsen war, oder aus funktionalen Erwägungen; da die Katze ein vorzüglicher Rattenfänger war.

Bielefelder Tageblatt, Jg. 66, 1876, Heft 193 (19.8.1876), S. 4.

In den folgenden zwei Wochen gab es keine weiteren Annoncen.

Kuriositätenkabinett — Teil 1

Mir dünkt, ob der zahlreichen originellen Fundstücke des Alltags- und Onlinelebens, die einen zum Schmunzeln oder Nachdenken anregen, sei eine Kategorie obigen Namens mehr als notwendig. Sie ist als lose Sammlung unterschiedlichen Couleur gedacht.

In der Zeitschrift für Instrumentenbau, einem Zentralorgan der pianoproduzierenden und -vertreibenden Industrie im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert findet sich in Ausgabe 12 des 23. Jahrgangs vom 21. Januar 1903 eher beiläufig unter den zahlreichen Nachrichten eine Diebstahlsmeldung.

So lapidar dieses Faktum erscheinen mag, umso mehr bringt der Hergang zum Schmunzeln und mehr noch zum Nachdenken:

Zeitschrift für Instrumentenbau, Bd. 23, Nr. 12, Leipzig, S. 307.
(http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/bsb00004249/images/index.html?id=00004249&nativeno=307)

Hierbei sticht zuvorderst der Name der Ortschaft Ofen-Pest, dem heutigen Budapest hervor. Es ist nur dem kundigen Leser bekannt, dass es sich hierbei um die beiden Ortsteile handelt, die sich beiderseits der Donau gebildet haben. Für das heutige Ohr klingt der Name nach einem humoristischen und unwirklichen Bild. Dabei leiten sich Ofen wie auch Pest oder Pesth von der Bedeutung Höhle ab.
(https://www.zobodat.at/pdf/Hoehle_036_0007-0012.pdf)

Die eigentliche Kuriosität dieses Fundstücks findet sich aber im Tathergang. Unter Vorwand falscher Tatsachen entfernten Diebe in Abwesenheit der Eigentümerin und unter den Augen einer Angestellten das im Haushalt befindliche Klavier, um es für einen schmalen Preis zu veräußern.

Die Dreistigkeit, einen mehr als nur schweren Gegenstand aus einer Wohnung zu tragen, zeugt von dem Wert eines Klaviers in jener Zeit und der damit verbundenen Möglichkeit, diesen auch absetzend zu können, wie auch von der Erfindungsgabe und akzeptierten (körperlichen) Mühen, einen solchen Gegenstand illegitim in Besitz zu nehmen.

Interessant ist wohl auch die Frage hinsichtlich der Entscheidungsgrundlage für die Wortwahl „leichtgläubig“. Wäre auch ein männlicher Hausangestellter so bezeichnet worden, wäre ihm eine derartige Situation widerfahren? – Vermutlich nicht.

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