Max Bill: Aufscheinungen des Unendlichen

Die Vorstellung von Unendlichkeit ist nicht ausschließlich Gegenstand der Mathematik oder Theologie und Philosophie. Auch die Bildende Kunst schafft ureigene Manifestationen eines Unendlichkeitsgedankens, indem zu einem gegebenen Thema eine Vielzahl von Variationen erzeugt wird. Das serielle Arbeiten wird somit sprich- und wortwörtliche Kunst ad infinitum. Ebenso erscheint das Unendliche auch als „Bildgegenstand“ oder „Bildinhalt“. Bereits Künstler der griechischen Antike setzen das Mäanderband, als ein um Gebäude oder Vasen umlaufendes Band mit Gedanken an die Unsterblichkeit in Verbindung. Eine spezifische Form wird hier zum symbolischen Träger des Infiniten.

Max Bill beschritt einen weiteren Weg. Er machte sich das Unendliche scheinbar so sehr zu Eigen, dass es nicht alleine auf seine Kunst beschränkt blieb; M. Bill befasste sich mit Architektur, Malerei, Plastik und setzte sich mit dem auseinander, was wir heute Produktdesign nennen. Er war Politiker, Pädagoge, Hochschuldozent für Umweltgestaltung, Ausstellungsmacher, Herausgeber und Autor von Künstlerbüchern und vor allem ein maßgebender Theoretiker der Konkreten Kunst. In diesen theoretischen Schriften, welche zu einem großen Teil seine eigene künstlerische Position beschreiben, beschäftigte er sich mit der Mathematik, beziehungsweise mit dem Mathematischen Denken. In einem 1949 erschienenen Text schrieb Max Bill er wäre

„der Auffassung, daß es möglich sei, eine Kunst weitgehend auf Grund einer mathematischen Denkweise zu entwickeln. Gegen eine solche Auffassung erheben sich sofort scharfe Einwände. Es wird nämlich behauptet, daß die Kunst mit Mathematik nichts zu tun habe, und daß Mathematik eine trockene, unkünstlerische Angelegenheit sei, eine reine Angelegenheit des Denkens, und dieses sei der Kunst abhold. Für die Kunst sei einzig das Gefühl von Wichtigkeit und das Denken sei schädlich. Weder die eine noch die andere Auffassung stimmen, denn Kunst braucht Gefühl und Denken.“(1)

Es ist zwar nicht möglich, aus den Schriften Max Bills eine einheitliche Theorie zu filtern, doch finden sich in ihnen zu unterschiedlichen Zeitpunkten seines Schaffens wiederkehrende Gedanken schriftlich fixiert. Neben dem Mathematischen Denken sind dies ebenso Ansätze zum Arbeiten unter Gesichtspunkten der Unendlichkeit. Besonders deutlich wird dieses in seinen Graphikserien. Zu einer frühen Lithographiereihe, den quinze variations sur un même thème(2) äußerste Max Bill:

„Als ich die Serie ‚15 Variationen’ 1935/38 realisierte und publizierte, hatte ich die Absicht zu zeigen, daß auf Grund eines konstruierten Themas verschiedene, recht unterschiedliche Variationen entwickelt werden können und daß dieser Vorgang nicht nur gesehen, sondern auch beschrieben werden kann.“(3)

Kunst hat für Max Bill nicht nur etwas mit Vielfältigkeit von Erscheinungsfor-men zu tun, sondern auch mit der Möglichkeit zur Versprachlichung von Kunst. Im Text, der den 15 Variationen beigegeben wurde, heißt es:

„innerhalb dieser eng gezogenen grenzen liegen so viele variationsmöglichkeiten, dass man schon darin, dass ein einziges thema, das heisst eine einzige grundidee, zu fünfzehn, sehr verschiedenen gebilden führt, einen beweis erblicken kann, dass die konkrete kunst unendlich viele möglichkeiten in sich birgt. solche gesetzmässige konstruktionen (…) können, je nach persönlichem willen und temperament, auf jedem frei gewählten thema vollkommen andersartig aufgebaut werden und je nach wahl des themas, ob kompliziert, ob einfach, zu den verschiedensten gebilden führen.“(4)

Das der Reihe zugrunde liegende Thema bietet die Möglichkeit unendlich vieler Ausformulierungen. Dabei bedeutet die Erfindungsgabe des Künstlers diesen Themen (Ideen) eine materielle Form zu geben. Anders als beispielsweise Joseph Albers verweisen die einzelnen Formen aufeinander, ohne jedoch die Eigenständigkeit zu verlieren. Sie alle tragen das Ursprungsthema in sich. Und doch überlagert die Entscheidung des Künstlers zu einer Form das Thema (Struktur). Dadurch wird beim Betrachter, so Eugen Gomringer, nicht die Struktur memoriert, sondern die gewählte äußere Form.(5)

Doch nicht alleine in ihrer Eigenschaft als Serie, taucht das Unendliche in der Lithographiereihe auf. Die Grundstruktur auf der die Reihe basiert, entwickelt sich aus einem gleichseitigen Dreieck, bei dem die unterste Linie nach außen geklappt ist. Diese Linie bildet die erste Linie eines Quadrates. Auch hier ist wiederum die letzte Linie, welche notwendig wäre um die Form zu schließen, nach außen geschwenkt. Erneut ist diese Linie der Beginn einer weiteren geometrischen Form, dem Fünfeck. Dieses Schema ist bis zum Achteck geführt und es entsteht eine sich nach außen windende Spirale, bestehend aus unterschiedlich abgewinkelten und dennoch gleichlangen Linien. Das besondere dieser Form ist, dass sich die Struktur beliebig erweitern lässt. Zum Achteck würde sich das Neun- und Zehneck gesellen und immer weitere Bahnen von Linien könnten sich in der Folge immer enger um die bestehende Spirale winden. Die äußerste Bahn würde sich unendlich nah einer Kreisbahn annähern, ohne diese jemals zu erreichen. Dieses Weiterdenken von Strukturen macht viel der Kunst von Max Bill aus und findet sich auch in zahlreichen seiner malerischen Arbeiten umgesetzt. Deren bildnerische Realisierungen sind oftmals bewusst offen belassen. Durch eben diese Offenheit und der Möglichkeit des Weiterdenkens von Bildern, erfüllt sich ein Teilaspekt der Frage nach dem Unendlichen; und dies sogar unabhängig von der Idee der Werkserie.

Ein anderes Konzept, welches zwar auch in zahlreichen Varianten umgesetzt wurde, aber in welchem der Aspekt des Unendlichen nicht vom Faktor Serie abhängig ist, ist die Unendliche Schleife.

„I created a single sided object by searching for a solution of a hanging sculpture turning in the rising air. (…) My research was neither scientific nor mathematical, but purely aesthetic. This happened in 1935, and I named my sculpture ‚Endless Ribbon’.“(6)

Max Bill behauptete 1979 in einem Artikel, er hätte keinerlei Kenntnis über das Möbiusband gehabt, bevor er die Skulptur entwarf. Er sah sich gar als Schöpfer dieser Form.(7) So euphorisch er angesichts seiner Entdeckung war, so ernüchtert war er über die Erkenntnis, dass sich bereits zuvor andere diesem Phänomen genähert hatten. Max Bill gab daraufhin die Forschungen zur Unendlichen Schleife für einige Jahre auf. Doch merkte er zugleich an, dass das, „was ich in Möbius’ Erklärung vermisste, war gerade das, was für mich von vorrangiger Bedeutung war: der philosophische Aspekt dieser Fläche als ein Symbol der Unendlichkeit.“(8)

Das Möbiusband, oder die Unendliche Schleife, wie sie M. Bill nannte, ent- steht, wenn man aus einem rechteckigen Stück Papier einen Ring formt, und eine der Enden vor dem Zusammenkleben um 180° verdrillt. Mit dem Band sind bemerkenswerte Eigenschaften verbunden und es hat, seit seiner „Entdeckung“ 1858 – unabhängig voneinander durch August Ferdinand Möbius (1790-1868) und Johann Benedict Listing (1808-1882) – zahlreiche Fachleute und Laien in den Bann gezogen. Das Möbiusband steht am Ursprungspunkt der mathematischen Disziplin der Topologie, welche „diejenigen Eigenschaften einer Fläche untersucht, die bei stetiger Verzerrung invariant bleiben.“(9)

Maßgebende Charakteristik des Möbiusbandes ist, dass es nur eine einzige Seite besitzt und zudem einen einzigen Rand aufweist. Dieses Faszinosum erschließt sich dem Betrachter durch ein kleines Gedankenspiel. Setzt man den Finger auf eine Seite der Skulptur auf und bewegt ihn entlang des Bandes fort, ohne über eine Kante zu treten, so findet man nach einer „Umrundung“ seinen Finger urplötzlich auf der entgegen gesetzten Seite jener Stelle wieder, an der man den Finger aufgesetzt hatte. Erst wenn man die Fahrt seines Fingers über die Oberfläche fortsetzt und die Plastik ein zweites Mal „umrundet“, gelangt man an seinen Ausgangspunkt zurück. Das Unendliche erscheint hier nicht in Form der Serie oder der Ausdehnung einer Arbeit, sondern innerhalb der beschriebenen Möglichkeit, unendlich lange die Fläche der Plastik in eine Richtung abzulaufen ohne an eine Grenze oder Kante zu stossen.

Max Bill hatte in zahlreichen Variationen und Größen das Möbiusband umgesetzt. In Messing, Marmor und Granit finden sich die Ausführungen dieser Idee in aller Welt verstreut. Mal sind die Skulpturen von augenscheinlicher Klarheit und erschließen sich in ihrer Form und Verschleifung augenblicklich. Andere sind unübersichtlicher geschaffen; in komplexen Windungen ist bei ihnen das Band zu einem dichten Knäuel zusammengewunden. Und doch beruhen alle diese Plastiken auf derselben Idee eines einseitigen Objektes.

Wie auch bei der Serie der 15 Variationen manifestieren sich trotz der gleichen Grundstruktur stets Werke mit unterschiedlichen ästhetischen Qualitäten.

Die Mathematik, oder das Mathematische Denken ist dabei für Max Bill nicht als die Möglichkeit zur Berechnung seiner Kunst zu verstehen. Die Wissenschaft dient als Vergleichswert. Ähnlich wie die Musik führt Max Bill die Konkrete Kunst auf klare, geordnete Strukturen und Rhythmen zurück, welche sich in der Mathematik wie auch in der Musik durch Erforschen offenbaren. Gleich der Mathematik (Wissenschaft) soll die Kunst abstrakte Zusammenhänge sichtbar machen.(10) Dabei stützt sich Max Bill insbesondere auf das Denken als ein Merkmal des Menschen. Stets taucht auch der Vergleich mit der Musik wieder auf. Max Bill betont, dass, wie die Musik, trotz ihrer klaren Ordnungen lebendig erscheint und gesellschaftlich akzeptiert ist, auch eine Kunst, welche aus festen Strukturen, also mit mathematischem Denken, „vollkommene Gebilde“ mit einem großen Variationsreichtum erschaffen kann.(11) Nicht die Mathematik führt zu den Werken, aber die „Gesetzmäßigkeit der Mathematik, gepaart mit der Inspiration mathematischer Denkweise, [ist imstande] Gebilde von vollkommener Schönheit und Gesetzmäßigkeit zu ergeben (…).“(12)

In Begriffen wie Vollkommenheit klingen Anleihen der philosophischen Ästhetik Hegels an. Max Bill hatte sich wie Theo van Doesburg auf die Ästhetik Georg Wilhelm Friedrich Hegels gestützt, welcher „den künstlerischen Prozess als Konkretisierung eines abstrakten Gedankens beschreibt.“(13) In einem 1936 erschienenen Text schreibt Max Bill:

„obschon jede schöpferische gestaltung durch inspiration angeregt wird, ist sie ohne klare und präzise formung nicht zu vollenden, durch die formung nehmen die entstehenden werke konkrete form an, sie werden aus ihrer rein geistigen existenz in tatsache umgesetzt, sie werden zu gegenständen, zu optischen und geistigen gebrauchsgegenständen.“(14)

Später wird er deutlicher, wenn er 1944 im Artikel ein standpunkt schreibt:

„vorher nur in der vorstellung bestehende ‚bilder’ werden realisiert und in konkreter form vermittelt.“(15)

Für Max Bill sind die Möglichkeiten der Kunst von unendlichem Reichtum der sinnlichen Erfahrungen geprägt. Kunst soll nicht alleine lehrend fungieren, sondern zum großen Maße auch den Menschen (sinnlich) erfreuen. Eine besondere Form des Ausdrucks von Unendlichkeit oder unendlichem Regress, gepaart mit Funktionalität und humoristischem Gespür findet sich in einer Arbeit umgesetzt, welche nicht direkt mit seinem Bildnerischen Œuvres zu tun hat: dem Rosenthaler-Künstlerteller Nummer 5.(16)

 

Anmerkungen

(1) BILL 1949, S. 88

(2) 1935/38, 31 x 32 cm

(3) Max Bill im Gespräch mit Walter Vitt; in: VITT 1982, S. 73

(4) Max Bill, 1938; abgedruckt in: KULTURAMT LANDKREIS ESSLINGEN 1995, S. 19

(5) GOMRINGER 1977, S. 70f

(6) Max Bill, 1979; zitiert nach: EMMER 1980, S. 108
(Michele Emmer, Mathematikerin)

(7) Vgl. EMMER 1980, S. 108 und MAOR 1989, S. 169
(Eli Maor, *1937, Mathematiker)

(8) Max Bill zitiert nach: MAOR 1989, S. 170

(9) MAOR 1989, S. 168

(10) Vgl. nach SCHRÖDER 2008, S. 43

(11) Vgl. BILL 1949, S. 88

(12) BILL 1938, S. 251

(13) NOCKE-SCHREPPER 2002, S. 87

(14) BILL 1936

(15) BILL 1944

(16) ohne anfang ohne ende, 1975, Rosenthal-Künstlerteller, Nr. 5, Porzellan, weiss glasiert, schwarz dekoriert, Ø 26 cm, Auflage: 5000

 

Literatur

BILL, Max (1936): „konkrete gestaltung“ In: Giedion, Sigfried; Abt, Otto (1936): Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Plastik. Zürich-

BILL, Ma.x (1938): „Ueber konkrete Kunst“. In: (Das) Werk, Vol. 25, 1938, S. 250-256

BILL, Max (1944): „ein standpunkt“. In: Arp, Hans; Bill, Max; Bodmer, Walter (1944): Konkrete Kunst. Basel.

BILL, Max (1949): „die mathematische denkweise in der kunst unserer zeit“. In: (Das) Werk, Vol. 36, 1949, S. 86-91.

EMMER, Michele (1980): „Visual Art and Mathematics: The Moebius Band“. In: Leonardo, Vol. 13, Nr. 2, 1980, S. 108-111.

GIANFREDA, Sandra (2008): „Max Bill 1908-1994“. In: Kunstmuseum Winterthur und Gewerbemuseum Winterthur (2008): Max Bill: Aspekte seines Werkes. Zürich.

GLATTFELDER, Hans Jörg (2008): „Konstanz und Wandlung des Begriffs «konkret» bei Max Bill“. In: Kunstmuseum Winterthur und Gewerbemuseum Winterthur (2008): Max Bill: Aspekte seines Werkes. Zürich.

GOMRINGER, Eugen (1958): „max bill und die konkrete dichtung“. In: Gomringer, Eugen (2000): Zur Sache der Konkreten: eine Auswahl von Texten und Reden über Künstler und Gestaltungsfragen 1958 – 2000. Wien, S. 59-65.

GOMRINGER, Eugen (1977): „max bill und das »prinzip seriell«“. In: Gomringer, Eugen (2000): Zur Sache der Konkreten: eine Auswahl von Texten und Reden über Künstler und Gestaltungsfragen 1958 – 2000. Wien, S. 66-72.

KULTURAMT LANDKREIS ESSLINGEN (Hg.) (1995): max bill. die grafischen reihen. Esslingen am Neckar.

MAOR, Eli (1989): Dem Unendlichen auf der Spur. Übersetzung aus dem Englischen von Doris Gerstner. Basel.

NOCKE-SCHREPPER, Hella (2002): „Kind ohne Namen? – Zur Entwicklung und Terminologie der konkreten Kunst in der Schweiz“. In: Museum im Kulturspeicher Würzburg (Hg.) (2002): Konkrete Kunst in Europa nach 1945. Würzburg.

SCHRÖDER, Britta (2008): Konkrete Kunst. Mathematisches Kalkül und programmiertes Chaos. Berlin.

STABER, Margit (1971): Max Bill. St. Gallen.

THOMAS BILL, Angela (1995): „vorab. grafische reihen“. In: Kulturamt Landkreis Esslingen (Hg.) (1995): max bill. die grafischen reihen. Esslingen am Neckar, S. 8-17.

VITT, Walter (1982): Von strengen Gestaltern. Texte, Reden, Interviews und Briefe zur konstruktiven und konkreten Kunst. Köln.

WEINBERG-STRABER, Margit (Hg.) (2001): Konkrete Kunst. Manifeste und Künstlertexte. Zürich.

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