Nimmerendende Gedanken
Anatol Herzfeld, schlicht auch Anatol; Polizeibeamter, Amateurboxer, Kunstschmied, Meisterschüler „beim Beuys“ und Inselbewohner der ersten Stunde. Von Beginn an besitzt Anatol (Jahrgang 1931) ein nach seinen Vorstellungen errichtetes Wohn- und Arbeitshaus auf dem Gelände des Museum Insel Hombroich, samt Grundstück auf dem er nach eigenem Gutdünken schalten und walten kann. Seine vorwiegenden Materialien sind Holz, Stein und Stahl. Gerne arbeitet er mit gefundenen Objekten, die er in einer Weise manipuliert und einsetzt, dass deren eigene Geschichte und Vergangenheit transportiert werden. Er löst sie aus ihrer bisherigen Funktion und überführt sie collageartig in einen neuen Kontext. Dadurch gibt er ihnen oftmals eine neue Funktion, welche ganz im Sinne von Joseph Beuys ein plastisches Arbeiten oder Gestalten an der Gesellschaft beinhalten kann. Die Interessenbereiche Anatols sind allumfassend. Es finden sich in seinen Werken Aspekte von Literatur, Philosophie und Kulturgeschichte, doch allgegenwärtig in der Zusammenschau seines Œuvres sind Bezüge zum Christentum. Der Wirkungsbereich Anatols existiert als eigene kleine Welt innerhalb des Auengeländes der Insel Hombroich. Das interessante ist, dass dieses spezielle Areal ihm gehört. Es ist zwar unmöglich »seinen Garten« ohne die Insel zu denken, doch lassen sich die Übergänge zwischen Insel und dem »Reich« Anatols genau benennen. Ortsmarken gleich, stehen einige seiner Plastiken und Skulpturen in der Peripherie seines Grundstücks.
März 2006
„Wo bist du?“ – Die Frage ist rhetorisch in die Leere des Raumes und der Zeit gestellt, ohne je eine Antwort zu erwarten. Anatol sitzt in seiner Hütte und deutet auf ein jüngst fertig gestelltes Bild, welches das frontale Konterfei Beuys’ in der typischen Malweise des Künstlers zeigt. „Er fehlt uns.“, nicht erst seid diesem Werk, sondern bereits seit seinem viel zu frühen Tod. Auch in der WDR Dokumentation Die Sonnenkanone beschreibt sich Anatol ausdrücklich nicht als Jünger, sondern als Nachfolger, als jemanden, „der die Fackel“ übernommen hatte. Blickt man sich in der Hütte um, die Wohnhaus, Atelier und Ausstellungsraum zugleich ist, so ist Beuys allgegenwärtig. Von einem Foto aus blickt der Lehrer über die Schulter seines Schülers. Eine spontane Fotografie fing diesen Moment ein, als Beuys, aus dem Foto nach links blickend, seinen Schüler, der nach rechts gewandt etwas zeigen wollte, anzusprechen schien. Ein Dialog über die Zeiten, ein Suchen nach einer Antwort, die nie kommen wird. Eben wie auch dieses gemalte Bild ein Dialog, eine Frage über die Zeiten hinweg ist. Beuys scheint auf diese Weise stets über Anatols künstlerische Schulter zu blicken; als Lehrer, Freund, Mentor und Schatten der Vergangenheit. Diese Beziehung zwischen Beuys und Anatol ist somit nicht nur eine biografische, sondern vor allem auch eine stilistische und künstlerische. Die Frage nach der Nachfolge zu Beuys ist eine besonders aktuelle. Vergessen scheint der Künstler Anatol Herzfeld in den Reihen der jungen Künstler, aber auch Kunsthistorikern. Isabelle Gram hatte Jonathan Meese in die Reihen von Beuys zu stellen versucht und zugleich aufgeführt, dass ihrer Ansicht nach ein Beuys-Typus in der Kunst notwendig sei um die Kunst als solches weiterzubringen. Sicherlich ist dies etwas kurzsichtig gedacht, angesichts der dramatischen Änderungen im Kunstbegriff und der Kunstproduktion und –Theorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Januar 2017
Im Wikipediaartikel zu Anatol findet sich im Abschnitt Arbeitszeit folgende Zeile: „Wo Beuys jedoch in starkem Maße Theoretiker und Metaphysiker war, auch mit einem Hang zur Selbstinszenierung, blieb Anatol der bodenständige Arbeiter.“[1] Es bringt vielleicht am eindringlichsten die Unterschiede beider Künstler auf den Punkt. Umso erstaunlicher erscheint es, dass herausstechenste Beschreibung Anatols in Publikationen noch immer „Meisterschüler von Beuys“ ist. Die alles überschattende Autorität des Lehrers verdeckt das eigentliche Schaffen Anatols; seine Experimente mit unterschiedlichsten Materialien, die er sich in körperlicher Anstrengung erschloss. Holz, Stein, Stahl treten dabei in besonderer Weise als Dreiklang hervor. Sie bilden die materielle Grundlage der Mehrzahl seiner Großplastiken. Hierneben finden sich aber auch Blei, Bronze und zahlreiche Arbeiten auf Papiergründen. Letztlich ist Anatol kein Beuys, wenngleich er lange Zeit eng mit diesem künstlerisch und freundschaftlich verbunden war. Die frühen Arbeiten (Aktionen) Anatols zeigen deutlich den Einfluss Beuys‘: Das Kreieren einer persönlichen Mythologie, einer künstlichen Narration vom Künstler, das sich bereits im Wählen eines Künstlernamens offenbart. Die »Geburt« Anatols aus der stählernen Kugel 1968 in der Kunstakademie Düsseldorf, in die er als Schutzmann Karl-Heinz Herzfeld hineinstieg, wurde von Beuys als »Geburtshelfer« begleitet. Sie deutet bereits an, wohin sich Anatol entwickelt. Das körperliche Arbeiten als Bestandteil künstlerischen Schaffens. Vielleicht begann sich Anatol auf Initiative Beuys‘ auf die eigenen handwerklichen Fertigkeiten als ausgebildeter Kunstschmied zu berufen. Der Künstler als Handwerker ist jedenfalls Fundament von Anatols Kunstwollen.
Juli 2017
Eine tiefgehende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Aktions- und Ausstellungshistorie Anatols hat es bislang nicht gegeben. Auch eine biografische Beschäftigung mit dem Menschen Anatol steht noch aus. Die Vielzahl an Publikationen zeichnet hinsichtlich der Aktionen und Ausstellungen ein unscharfes und ungenaues Bild. Oftmals fehlen konkrete Angaben zu Zeiträumen, Orten und Inhalten der Aktionen/Ausstellungen. Einen wichtigen Ansatzpunkt liefert neben Publikationen (auch journalistische Zeitungen und Zeitschriften) das Archiv des Museum Insel Hombroich. In ihm befinden sich u.A. der Nachlass Karl-Heinrich Müllers, dem Museums- und Stiftungsgründer. In einer Reihe von Aktenordnern lassen sich chronologisch Fotografien und Zeitungsartikel zu Aktionen und Austellungen Anatols einsehen. Man mag gewillt sein, diese, durch die Kunsthistorikerin Kitty Kemr gelegten Fundamente als Basis für weitere Arbeit heranzuziehen. Doch finden sich bereits hier erste Stolperfallen. Dies betreffen insbesondere Zuordnungs- und Datierungsfehler, oftmals hervorgerufen durch mündlich geäußerte Irrtümer oder innerhalb der Literatur replizierte Fehler. Bestes Beispiel ist die Aktion „Stahltisch“ (auch: „Drama Stahltisch“ und „Der Tisch“). Aber auch Zuordnungen von Fotografien sind nicht immer eindeutig. So finden sich Abbildungen der „Wiederaufführung“ der Aktion „Stahltisch“ von 1973 unter 1969 (eigentlich 1968) und vice versa. Hier enden die Probleme nicht, sondern beginnen erst. In Katalogen und anderen Veröffentlichungen werden zahlreiche Listen mit Ausstellungen genannt. Oft bleibt unklar, wo und wann diese im Detail stattfanden, ob es sich um längere Ausstellungen handelte oder lediglich um einmalige Aktionen. Die Stiftung Museum Insel Hombroich verfügt über eine Reihe von handschriftlichen Archivalien Anatols. Diese Auflistungen und Ihr Kontext legen nahe, dass die meisten Katalogeinträge zu Aktionen und Ausstellungen von Anatol vorgegeben wurden. Für Anatol waren Aktion und Ausstelllung letztlich stark miteinander verschränkt und das Eine begleitete zumeist das Andere. Anatol begann sein Studium bei Beuys 1964 und war stark von dessen künstlerischem Wirken beeinflusst. Wenngleich beider künstlerischer Positionen bei näherer Betrachtung in unterschiedliche Richtungen gehen, hat Anatol die Aktion als zentrale und durchgehende Technik seines künstlerischen Schaffens gewählt.
Geburt des Aktionismus
Im Gespräch mit Heribert Brinkmann beschreibt Anatol, seine „erste Kunstaktion vor der großen Eisenkugel fand in einem Rapsfeld statt. Ich haute vier Stämme in ein Rapsfeld, darauf kam ein Brett. Ich legte mich da aufs Brett wie eine Biene, die ein Rapsfeld anfliegt. Ich hatte nur noch gelb vor mir. Der Duft macht einen ganz verrückt. Er erinnert mich immer an meine alte Heimat.“ (Stiftung Insel Hombroich (Hg.): Anatol; Lebenszeiten – Arbeitszeiten. Neuss 2001, S. 88) In dieser Beschreibung einer undatierten und unlokalisierten Aktion zeigt sich bereits, wie Anatols Kunst stark biografisch ist und Züge einer Beschäftigung mit Dingen und Geschehnissen hat, die ihn persönlich betroffen machen. Eine der frühesten datierbaren Aktionen fand am 20. März 1967 statt. Parallel zu Beuys vollführte Anatol seine Aktion Goldene Säule („10 Stunden bei Dahlem (zusammen mit Beuys)“) in einem Vorraum der Galerie Franz Dahlem in Darmstadt. Belegt ist diese Aktion nicht alleine durch die vielen Ausstellungslisten in den Katalogen Anatols, sondern mit begleitender Bebilderung im Beuys-Katalog (Eva Huber: Joseph Beuys; Hauptstrom und Fettraum – Ein Lehrstück für die fünf Sinne. Darmstadt 1993). Hierdurch ist dies eine der wenigen gut beschriebenen und publizierten Aktionen Anatols. Neben dem umfangreichen, wenngleich erschöpfenden Bestand des Archivs der Stiftung Museum Insel Hombroich, bietet das Buch Der ganze Riemen von Johannes Stüttgen (Köln 2008) wichtige Hinweise auf Datierung und Verortung zahlreicher Aktionen Anatols im Zusammenhang mit der Kunstakademie Düsseldorf. Stüttgen berichtet anhand seiner persönlichen Aufzeichnungen ausführlich über die Lehrjahre bei Joseph Beuys zwischen 1966 und 1972. Sein Einstand an der Akademie und in der Klasse Beuys fällt zeitlich zusammen mit dem Beginn der Ringgespräche, einer performativ-diskutierenden Versammlung in Raum 20 der Akademie. Während Petra Richter in ihrer 2000 erschienenen Dissertationsschrift Mit, neben, gegen; Die Schüler von Joseph Beuys die Ringgespräche in den Kontext akademischer Lehrtätigkeit stellt und als „»Keimzelle« der politischen Aktivitäten der Beuys-Schüler“ (S. 176) bezeichnet, findet Stüttgen aus seiner künstlerischen Perspektive eine andere Einordnung: spätestens mit dem zweiten Ringgespräch Anatol befragt Beuys rückt er das Ringgespräch in einen aktionistischen Rahmen. Die Umkehrung der traditionellen akademischen Hierarchie war Thema, und „(d)emonstriert werden sollte dieses Prinzip in Form einer ‚Aktion‘, eines Rituals, dessen Regeln und Ablauf allein von Anatol festgelegt waren und dem Beuys sich zu fügen verpflichtet hatte“ (Stüttgen, S. 33). Stüttgen erkennt in dem Stück die offensichtliche politische Dimension. Blickt man genauer auf den durch Stüttgen geschilderten Handlungsablauf und -Rahmen (Stüttgen, S. 33-35) und bezieht den weiteren sachlichen Kontext mit hinein, wandelt sich dieser Blick. Anatol und Beuys sind Akteure in einem simulierenden Handlungsrahmen, in welchem sie Rollen einnehmen, die sie selbst sind: Anatol als Polizist und Beuys als Künstler und Professor Beuys. Beide besitzen qua Amt Autorität. Hier verbleibt alles im »Spielerischen«: Anatol stellt Regeln auf und Beuys akzeptiert diese. Ob es sich dabei um Demokratie im Kleinen handelt, mag angezweifelt werden. Jedenfalls steht es Beuys jederzeit frei, die Regeln zu brechen und nicht oder anders als abgesprochen zu antworten. Diese Form des Ungehorsams würde das symbolische Konstrukt der Simulation zuerstören. Das Scheitern der Simulation würde mit dem Scheitern des künstlerischen Aktes zusammenfallen. Ließe man eine Verabredung einseitig fallen, exponiert man sich von einer gemeinsamen Leistung.
Drama Stahltisch
Das Thema Verhör und Autorität als institutionalisierte Gewalt tauchen modifiziert in der Aktion Drama Stahltisch (Drama Tisch oder Der Tisch) vom 5.12.1968 im Creamcheese in Düsseldorf wieder auf. Jochen Duckwitz, Ulrich Meister und Johannes Stüttgen sitzen in Kutten unterschiedlicher Farbe gehüllt (rot, blau und gelb: Uwe Witsch: Perfekte Erstarrung. Der ‚Stahltisch‘ mit Beuys, in: Rheinische Post vom 7. Dezember 1968 und Helga Meister: Beuys ging in die Knie. Mitternächtliches Happening mit Kunstprofessor und Anatol, in: Düsseldorfer Nachrichten vom 7. Dezember 1968.) und mit Gummihandschuhen zum Schutz der Handgelenke bewehrt an drei Seiten eines von Anatol geschaffenen Stahltisches und auf von ihm geschaffenen Stahlstühlen. Ihre Hände sind mit Schellen fest an die Tischplatte gebunden. Vor jedem der drei Akteure ist ein Mikrofon auf den Tisch geschraubt und zwei Lampen, eine rote und eine grüne, in die Tischplatte eingelassen. Bei einem grünen Licht darf der jeweilige Akteur sprechen und muss bei Rot schweigen. Anatol befand sich etwas entfernt vom Tisch mit einem Schaltpult, das die Lampen des Tisches bedienen konnte. Die Einladung zur Aktion und Publikationen über sie legen zudem die Nutzung eines Timers als Zeitgeber nah (z.B. Peter Schmieder: Der Stahltisch, in: Sammlung Feelisch, Aust.-Kat. Museum am Ostwall, Dortmund 1993, S. 92 f.).
„(…) hier vorne, es tut mir leid (…). Es dauert, (…) die Kamera (…). Jetzt geht’s los, jetzt geht’s los. Grünes Licht! Ich habe die Erlaubnis zu sprechen. Ich spreche (…) ich spreche, ich komme durch; das ist sehr schön; hier vorne: die Leute, die Leute, die reden (…)“
(Jochen Duckwitz zu Beginn der Aktion)
Die Aktion wurde von Dietmar Kirves (mediacontact Düsseldorf) auf Film festgehalten. Von der anderthalbstündigen Aktion wurde 1971 eine sechszehnminütige Fragmentzusammenstellung samt neunzig Minuten Ton als Multiple von Beuys veröffentlicht (dazu Buch und DVD: Eva Beuys, Wenzel Beuys: Joseph Beuys, Handaktion 1968 & Anatol Herzfeld, Der Tisch 1968. Joseph-Beuys-Medien-Archiv; Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart – Berlin. Göttingen 2009). Vergleichbar fragmentarische Beschreibungen finden sich in Tageszeitungen und diversen Buchpublikationen und geben einen nur ungefähren Aufschluss über den Ablauf.
In den Filmfragmenten sieht man gelegentlich Anatol von der rechten Seite, hockend auf einer Art Schemel oder Stufe, nahe der Wand. Er trägt eine helle Hose, eine dunkle Lederjake und eine Schlägermütze. Vor ihm befindet sich ein Podest. Auf diesem ein großer undefinierbarer Kasten, vielleicht ein Lautsprecher. Hier hat Anatol sein Steuergerät für den Tisch positioniert. Seine Arme ruhen auf den Knien. Mit der rechten Hand bedient er das leicht nach links über die Körpermitte gerückte Steuergerät. Der linke Arm ist über den rechten Arm gelegt, die Hand ruht mit den Fingerspitzen auf dem rechten Knie. Die Uhr lugt unter dem Ärmel hervor und scheint als Taktgeber zu fungieren. Man erkennt, wie Anatol den Kopf gesenkt hat und scheinbar auf Uhr und Steuergerät blickt.
Der Rhytmus ist dreißigsekündig: Sprechen, Schweigen, Sprechen, Schweigen, Sprechen. Immer im gerechten Wechsel zwischen den drei Parteien.
Nachtrag März 2018
Was im ersten Moment als ein gewalttätiges Abwürgen der Redeparteien, als eine Herrschaft über den Vortrag erscheint, gewinnt in näherer Betrachtung ein urdemokratisches Motiv. Ganz im Sinne parlamentarischer Debatten, erhalten die Teilnehmenden die gleichen Redezeiten. Anatol ist kein Puppenspieler. Er ist Parlamentspräsident, dem die Wahrung der Geschäftsordnung obliegt.
Dieses demokratische Denken findet sich im gesamten Schaffen Anatols verstreut. Immer wieder stößt man auf den Gedanken eines menschengemachten Rechtssystems, das für alle Menschen gleich ist. Solange Menschen miteinander reden, solange Ideen, Gedanken und Meinungen in einer freiheitlich-demokratischen Debatte ausgetauscht werden, wird sich etwas bewegen; kann Frieden und Recht gewahrt bleiben.
„Ich bin nie Ideologien dienbar, könnte somit niemals gefährliche Schritte lenken, z. B. ein Plakat herstellen, um ein Volk anzustoßen oder gar ein Kriegsplakat. Ich könnte auch nie ein Friedensplakat machen, weil ich ungeheuer schwor, friedlich zu sein. (…)“
(Anatol in: Anatol: Bilder und Plastiken, 1965 bis 1985, Arbeitszeit; Hrsg. vom Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen; 1985, o. S.)
August 2017
Nach etwa dreißig Minuten bemerkt, vermutlich Ulrich Meister in einer Sprechpause: „(…) man kann sich nicht richtig konzentrieren (…) eine halbe Minute ist zu wenig“ (ca. min. 28:50).
Einige Minuten zuvor wird die Rede Meisters unterbrochen. Der am Mikrofon hängende Lautsprecher übersteuert und man vernimmt undeutlich aufgeregte Rufe. Zwischendurch: „(…) Was ist das? Bitte nicht. Bist du besoffen? Geh da runter! (…) Ja, sag, wie soll ich das bewußt machen, hier drin? (…)“ (nach min: 28:30). Auch Uwe Witsch beschreibt eine solche Szene: „Die Zuschauer, die sich dichtgedrängt um den Handlungsort scharren, bewahren Ruhe. Nur einer befolgt die Aufforderung der drei Sitzenden ‚zu fragen, zu antworten und lebend zu sein‘. Doch das war unerwünscht! Die drei, die das geistige Prinzip beschworen, zischten den Eindringling aus und empfanden ihn als Ruhestörer. Ein fragwürdiges Happening, denn es verbot eines seiner Hauptprinzipien, das Mitspiel der Zuschauer.“ (Witsch 1968) Witsch offenbart in seiner Beschreibung die stark begriffsorientierte Sicht der Öffentlichkeit auf die Kunst. Formen scheinen an modische Begriffe gebunden. Alle Kunst abseits seiner Objekthaftigkeit wird als Happening bezeichnet. Es ist nahezu unmöglich Anatols Kunst vollständig im Definitionsraum von Happening unterzubringen. Die Einbeziehung des Besuchers oder Betrachters ist bei Anatol nicht vollständig und nicht konsequent. Insbesondere in seiner frühen »Handlungskunst« zeigt sich eine, zum Teil handwerklich ausgerichtete Demonstrationskunst. Im Titel der Aktion – Drama Stahltisch – drückt sich auch eine Nähe zum Theater aus. Anatol schuf eine hermetisch geschlossene Darbietung mit Akteuren. Unterstützt wird diese Perspektive durch die von Ute Klophaus beschriebene „nachmittägliche Probe“ (Schneede 1994, S. 216): „Am Nachmittag besichtigte ich das Lokal »Cream Cheese«, in dem die Aktion am Abend stattfinden sollte. Fernsehleute machten eine Beleuchtungsprobe und richteten ihre Scheinwerfer auf einen Stahltisch, der im Mittelpunkt stand. Dort saßen: Anatol Herzfeld, Joachim Duckwitz und Johannes Stüttgen zu einer Probe. ich sah, daß sie sich während der Aktion mit Handschellen an dem Tisch anschnallen würden, um so mit gefesselten Händen miteinander zu sprechen. Beuys war bei dieser Probe nicht anwesend. Ein Platz für ihn war außerhalb dieses Bereiches in einer Ecke, die ohne Beleuchtung war, vorgesehen.“ (Bonner Kunstverein (Hg.): Ute Klophaus; Sein und Bleiben; Photographie zu Joseph Beuys; Ausstellung, 12. Mai – 29. Juni. Bonn 1986, S. 39)
Dennoch findet eine gewisse Interaktion mit dem Publikum statt. Die drei Akteure am Tisch reagieren auf das, was sie umgibt. Duckwitz: „So und jetzt geht’s weiter. Ja, liebe Freunde, ja. Jetzt bin ich dran und kann Ihnen auch antworten, wenn Sie mir die Frage wiederholen würden. [Rückkopplung] Es tut mir leid, hier geht es nach Regeln vor, wir gehen nach Regeln vor, haben Sie das noch nicht begriffen? Hier sind ganz strenge Regeln. Jetzt rede ich, weil ich [Unterbrechung] Nein, das sind die Regeln des Tisches. Auf diesem Tisch leuchtet ein grünes Licht auf und das bedeutet [Unterbrechung] (…)“ (min. 23:16–23:46). Diese kurze Passage zeigt, wie sehr dem Tisch die Steuerung zugeschrieben und Anatol als »Puppenspieler« ausgeblendet wird.
Die Steuerung von menschlicher Interaktion durch Technik. Was zunächst als eine archaische Warnung vor Social Media Blasen erscheint, wandelt sich bei näherer Betrachtung zu einer indirekten Orwell’schen Mahnung eines verantwortungsvollen Umgangs mit Technik.
Der Tisch wird zum Akteur, welcher das Sprechstakkato der Gefesselten rhythmisch steuert. Obwohl die Steuerung zeitlicher Natur ist, wird indirekt auch der Inhalt gelenkt. Keiner der Akteure vermag einen über die erzwungenen Pausen reichenden, kontinuierlichen Vortrag halten. Lediglich Johannes Stüttgen bemüht sich um einen inhaltlichen Roten Faden. Doch auch ihm unterlaufen Brüche, Wiederholungen und Inkonsistenzen, die er selbst auszudrücken scheint: „Je weiter die Zeit – also – zurückreicht, erinnere ich mich umso schlechter. Ich versuche zu rekonstruieren. Die Nachricht muss zeitweise unterbrochen werden. Sokrates, Platon, Aristoteles, Christus. Die Erde wird auf irgendeine Art und Weise erkannt. Und erkannt wird plötzlich Innen, Außen, Mensch, Natur…“ (min. 38:49–39:20).
Obwohl nicht immer eindeutig, tauchen über den gesamten Verlauf der Aktion Metaebenen auf, die das umliegende Geschehen beschreiben oder kommentieren. Vor allem befasst sich Ulrich Meister in seinen Sprechphasen mit den Geschehnissen im Raum, dem Tisch und seinen Stühlen, sowie dem Wesen von Sprache.
September 2017
Die der Aktion zugrundeliegenden Regeln, die von den Akteuren vorbereiteten Themen und das letztliche Scheitern eines geordneten Ablaufs sind symptomatisch für performative Kunst. Unberechenbarkeit ist ein nicht in Gänze kalkulierbarer Faktor in der Begegnung von Künstler und Publikum. Es erscheint geradezu als ein sozialdynamisches Prinzip, dass einzelne Teilnehmende ihr Handeln im künstlerischen Kontext bewußt von gesellschaftlich normierten Ritualen oder im Kontext der Aktion geforderten Handlungsweisen abweichen. Aus einer solchen Erfahrung resultierte Klaus Rinkes Skepsis gegenüber einer Partizipation des Betrachters:
„Die Welle der Publikumsbeteiligung ist vorbei. Ich bin schon angefressen von den ewig gleich blöden Reaktionen des Publikums. Ich bin schon selbst wie ein Tier, aber darin bin ich unheimlich sensibel. Ich werde ein Ding machen für Publikumsbeteiligung: Benützung auf eigene Gefahr! Und es sind 2000 Volt drauf.“
(Klaus Rinke zitiert nach Damus, Martin: Funktionen der Bildenden Kunst im Spätkapitalismus. Untersucht anhand der >avantgardistischen< Kunst der sechziger Jahre. Braunschweig 1973, S. 116, Fußnote 22)
Dieses Zitat darf jedoch keinesfalls exemplarisch für die Haltung Rinkes gegenüber einer Beteiligung des Publikums gesehen werden. Die erste Publikumsbeteiligung ereignete sich durch Zufall und unbeabsichtigt. Hierauf verweist Renate Buschmann in ihrer Dissertation zu den Düsseldorfer between Ausstellungen (Buschmann, Renate: Chronik einer Nicht-Ausstellung. between (1969-73) in der Kunsthalle Düsseldorf. Bonn 2006). Klaus Rinke nahm 1969 an der zweiten Ausstellung dieser kurzen Reihe teil. Seine in diesem Rahmen präsentierte Arbeit Zwischenmenschliche Beziehungen ist darauf ausgelegt mittels Einbindung des Publikums dieses zum Handeln aufzufordern. Dabei vollführte Rinke eigene Handlungen und beobachtete zugleich akribisch das Verhalten des Publikums (Buschmann 2006, S. 99ff).
Allerdings, so Renate Buschmann war diese Demonstration (Aktion) Zwischenmenschliche Beziehung die erste und einzige bei welcher Rinke versuchte das Publikum bewusst mit einzubinden (Buschmann 2006, S. 104). Da das Publikum eher geneigt war den Künstler nach dem Sinn dieser Aktion zu befragen, als tatsächlich konzeptkonform zu partizipieren, erwog Klaus Rinke die Aktion vorläufig abzubrechen und wiederholte derartige Experimente nicht wieder (Buschmann 2006, S. 105).
Oktober 2017
Anatol ließ sich von Störungen seiner Aktionen nicht beirren. Er beließ es nicht bei theatrischen Vorstellungen oder Happenings, sondern bezog den Besucher, beziehungsweise Betrachter aktiv mit in seine Aktionen mit ein. Diese Arbeitszeiten, wie er sie nennt, befinden sich weit von Rinkes Demonstrationen entfernt. Sie sind raumzeitlich begrenzte Sozialisationen. Im künstlerischen Prozess schafft Anatol »situative Gemeinschaften«. Er bringt Menschen zusammen und eröffnet ihnen auf einer sinnlichen – ästhetischen Ebene gewisse Perspektiven (s)einer Weltsicht. Der Betrachter wird zum Partizipanten.
Zu der situativen ästhetischen Form treten sprachliche Dialogformen, die sich in zweierlei Weise entfalten: Sprache als Monolog des Künstlers mit stark autobiografischem Schwerpunkt wird zu einem ästhetischen Prozess. Davon unterschieden muss der Dialog zwischen Partizipanten, welche entsprechend ihren im Sozialisationsprozess eingeübten Handlungsformen agieren. Als Künstler erscheint Anatol als Medium zwischen Ästhetik und Gesellschaft. Im Dasein als Künstler schafft er das ästhetische Situativ, als Mensch wird er zum Teil der temporären Gemeinschaft.
Januar 2018
Wie ein Roter Faden zieht sich dieses Motiv einer situativen Gemeinschaft durch Anatols Werk. In und durch sein aktionistisches und skulptural-plastisches Handeln entstehen für den Moment Interessenstgemeinschaften. Begegnen, Kennen-Lernen, Austausch. Die Sprache und das ästhetische Objekt werden zu Medien und Ort eines Fortschritts. Dieser individuelle Mehrgewinn wird weitergetragen.
Februar 2018
Aufbauend auf Max Webers Begriff der »Vergemeinschaftung« formulierte Winfried Gebhardt den Begriff der »situativen Event-Vergemeinschaftungen« (Gebhardt, Winfried (2009): „Gemeinschaften ohne Gemeinschaft; Über situative Event-Vergemeinschaftungen“. In: Hitzler et al. (2009): Posttraditionale Gemeinschaften; Theoretische und ethnografische Erkundungen. Erlebniswelten Bd. 14. Wiesbaden, S. 202-213). Ausgehend von drei Beispielen, von denen eines die Eventfotografie Spencer Tunicks ist (S. 202), beschreibt Gebhardt, wie zeitlich begrenzte Events von Einzelpersonen wahrgenommen werden, obgleich die zusammentreffenden Menschen keine unmittelbaren sozialen Beziehungen besitzen. Im Kontext des Weltjugendtages 2005 in Köln schreibt Gebhardt: „Obwohl die Gruppen in der Regel für sich bleiben, Kontakte zu anderen Teilnehmern zwar vorhanden sind, meistens aber nur auf einer symbolischen Ebene stattfinden, gilt den jugendlichen Besuchern der Weltjugendtag als ein ‚ergreifendes‘ Gemeinschaftserlebnis, in dem sie die Erfahrung, im Glauben nicht allein zu stehen, als bekennender Katholik – anders als in ihrem Alltag – nicht marginalisiert zu werden, begeistert zelebrieren“ (S. 203). Durch das Aufgreifen des Ritualbegriffs (Fest), in dem standartisierte Handlungsabläufe ein außeralltägliches Erleben sichern und diese damit als wiederkehrende Ereignisse Bestandteil von Vergemeinschaftung auf Dauer sind (S. 206), schlägt Gebhardt die Brücke zu Events. Situative Event-Vergemeinschaftungen richten sich ihm zufolge jedoch nicht auf Dauer aus, sondern „sie stellen einen Vergemeinschaftungstypus eigener Art und eigenen Rechts dar. Es sind Events (…) in denen sich Gemeinschaft auf Zeit bildet, die ohne jede Auswirkung für den nachfolgenden Alltag bleibt. Auch diese Events bieten das Erlebnis des ‚ganz Anderen‘ im kollektiven Vollzug, aber dieser kollektive Vollzug stiftet keine Gemeinsamkeit mit anderen und keine Verläßlichkeit auf andere, die über den Augenblick hinaus auch soziale Beziehungen im Alltag trägt – und dies vor allem deshalb, weil das ‚Kollektiv‘ eben nur scheinbar ein ‚Kollektiv‘ ist. Situative Event-Gemeinschaftungen lassen sich deshalb definieren als (…) Dauer geradezu negierende, rein momentane soziale Beziehungen (…)“ (S. 206f).
Projiziert man dieses Modell auf die zeitlich begrenzten Aktionen Anatols, bzw. der Performancekunst im Ganzen, ergeben sich interessante und zugleich ernüchternde Folgerungen.
Zunächst bezieht sich das unmittelbar auf eine Aufhebung gesellschaftlicher Verhaltenskonventionen und ihrer Verkehrung in ihr Gegenteil (S. 208; dazu auch: Gebhardt, Winfried (1987): Fest, Feier, Alltag; Über die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen und ihre Deutung. Europäische Hochschulschriften. Reihe 12: Soziologie Bd. 143, Frankfurt am Main et al.). Dies findet sich nicht nur in oben beschriebenen Sequenzen des Drama Stahltisch, sondern in extremer Weise auch bei Marina Abramovic Performance Rhythm 0 (Frazer Ward (2012): No Innocent Bystanders: Performance Art and Audienc“. Dartmouth, S. 119-129).
„Erst unter den Bedingungen des Sich-nicht-Kennens und damit des Niemanden-verpflichtet-Seins entfaltet die Emotionalität des gemeinschaftlichen Handelns ihre volle anarchische Kraft“ (Winfried 2009, S. 209).
Juni 2018
Menschen kommen unter dem Dach der Kunst in einem ansonsten weitestgehend kunstfreien Raum – dem urbanen Raum zusammen. Anatol erzeugt mit den Mitteln der Kunst (temporäre) Gemeinschaften und war hierin erfolgreicher, als es Beuys jemals war. Wo Beuys sich einem gebildeten kunstsinnigen Publikum stellte – und von diesem auch stark kritisiert wurde, vermochte Anatol in die Mitte einer Arbeiter- oder Arbeitnehmergesellschaft vorzudringen. Er verzichtete auf einen theoretisch fundierten und differenzierten Kunstbegriff und Mystik. Anatol holte die Menschen dort ab, wo sie sich befanden: Niemals ist es sein Ansinnen, Menschen mit dem Vorschlaghammer von einer Sicht oder Position zu überzeugen. Seine Unterhaltungen mit Besuchern und Partizipanten enthalten vornehmlich kunstferne Themen, ohne einen Brückenschlag zum Komplex Kunst zu schlagen.
Mai 2019
Mit Bestürzung vernahm ich den Tod Anatols. Die Arbeitszeit ist nun beendet, der Meißel aus der Hand gelegt. Mit Anatol geht nicht nur der letzte Müller-Gefährte und Insel Hombroich-Urgestein, sondern auch ein besonderer Charakter der Kunstszene Düsseldorfs der 1970er Jahre. Anatol hinterließ im gesamten Rhein-Ruhr-Gebiet und darüber hinaus seine Spuren. Nahezu an jeder Ecke begegnet man seinen Wächtern, Findlingen oder anderen Werken. Spuren, die es wert sind, weiter erkundet zu werden.